Von Peter Rüedi

Kulturpublizist, war Chefdramaturg am Schauspielhaus Zürich, schreibt seit 21 Jahren die legendären Jazzkolumnen in der Weltwoche

Sehr geehrter Herr Stadtpräsident,
Sehr geehrte Sponsoren,
Lieber Beat Kennel,
Liebe Freunde

Anlässlich des 40-jährigen Jubiläums des Berliner JazzFests stand im «Tagesspiegel» folgender Satz: «Ein grosses Problem des Jazz ist sein Publikum. Es ist zu alt.» Im Klartext heisst das, der Jazz sei jung, aber seine Liebhaber sind alt, und das ist ja allemal, nicht nur im Fall von Nabokovs berühmtem Roman, eine anrüchige Angelegenheit: alte Liebhaber von jungen Attraktivitäten. Ich gerate da schon etwas ins Grübeln, wenn ich zu einem speech wie diesem gebeten werde. Mit dem Alter ist es ja so eine Sache, bekanntlich klaffen Aussenansicht und Selbsteinschätzung bedenklich auseinander, und die Bemerkung, die Anzahl jugendlicher Greise halte sich mit der Anzahl von Dynamitgrossvätern allemal die Waage, wird halt meistens von letzteren vorgebracht.

Im Ernst: es ist ja was dran, an dem nicht unoriginellen Satz, auch wenn Kriterien wie alt und jung eher im Bereich von Moden relevant sind als in dem der Kunst. Gemeinhin wird ja einfach «der Jazz» abgeschrieben als alt, passé oder gar tot. Ist aber eine Musik jünger als ihr Publikum, wird die Sache komplizierter. Irgendetwas, soviel lässt sich sagen, stimmt da nicht.

«Der Jazz», sagen andere, ist ja längst salonfähig geworden, Teil einer Kultur der Affirmation, ein unfraglich sicherer Wert. Eine klassische Musik. Er hat sein Protestpotential verloren, seinen Aussenseiter-Habitus, den Geruch, der sich aus schweisstreibender Artistik und dem unbedenklichen Umgang mit den Parfüms des Trivialen ergab. Jazz ist eine etablierte Angelegenheit: lehr- und lernbar, zitierbar, geeignet für Werbung und Inaugurationsfeiern amerikanischer Präsidenten, wenn auch vielleicht nicht gerade des jüngsten. Oder doch: auch eine Art George W. Bush-Jazz gibt es. Stimmt das?

Es stimmt auch. «Jazz», nie ein präziser Begriff, meint längst alles oder nichts, darunter all das Genannte. Aber eben auch das Gegenteil. So wie es stimmt, was Jan Garbarek sagt: dass man unter ein Stück von Nordheim (der ist sozusagen der Henze von Norwegen) nur einen Drum-&Bass-Beat legen muss, und es wird tauglich für den Media-Highway, so stimmt auch, dass die hellhörigen unter den Jungen früher oder später der extrem konventionellen Rock-Stereotypen überdrüssig werden und entweder entdecken, woher diese stammen, oder was «der Jazz», der lebendige und bewegliche und ungemein wandlungsfähige Jazz, an aufregenden Alternativen anzubieten hat. Eine Musik, die, aller Fixierung auf Tonträgern zum Trotz, nicht ist, sondern wird, immer wieder, und die auch immer wieder vergeht. So viele Tode der Jazz gestorben ist, so viele Auferstehungen hat er erlebt. Die Vergänglichkeit gehört zu seinem innersten Wesen. Er ist eine Musik ad hoc.

Womit ich endlich beim Club wäre, dessentwegen wir uns hier versammeln.

Die Geschichte des Jazz, nicht nur, aber vor allem des modernen Jazz, ist auch die Geschichte der «Clubs». Die meist kleinen, verrauchten, lärmigen, von einem Publikum bevölkerten Lokale, über dessen Unachtsamkeit jeder, der in ihnen spielte, schon geflucht hat und die er doch nicht vermissen wollte, auch wenn er längst grössere Bühnen gewohnt war; diese meist unterirdischen, schäbigen, bei Tage jämmerlichen Höhlen, Keller, Garagen und Baracken waren insgesamt das Biotop, in welchem diese Musik entstand und blühte. Improvisierte Musik, die Jazz welcher Spielart im Wesentlichen doch immer war und ist, ist angewiesen auf ein Ambiente, das Unerwartetes zulässt. Ich möchte sagen: auf eine gewisse Beiläufigkeit. Es scheint ihnen vielleicht grotesk, aber es gibt tatsächlich Kunst, die mit einem Ohr besser wahrgenommen wird als mit zweien. Konzentration ist nicht die einzig angemessene Haltung, weder bei der Produktion noch bei der Wahrnehmung von Kunst, vor allem nicht von spontaner, improvisierter, das heisst in der Zeit fliessender und verfliessender Kunst. Einer Musik, die nicht ein schon erfundenes, geformtes, fixiertes, ausgedachtes Produkt vorführt, sondern die überhaupt erst hier und jetzt und ad hoc entsteht. Sie braucht den Resonanzraum eines gleichzeitig entspannten und aufmerksamen Publikums.

Natürlich kann Jazz auch gelehrt und gelernt werden, und wer wollte etwas gegen die vielen Jazzschulen einwenden, die nach der Gründung der Swiss Jazz School Bern allein in der Schweiz aus dem Boden schossen. Es gibt in diesem Land mehr junge Musiker, die technisch, theoretisch, in jeder Hinsicht besser ausgebildet sind als je zuvor, die die Changes von Coltranes Giant Steps besser durchkurven als der selbst. Gleichzeitig, sprechen wir’s aus, gab’s noch nie so viele junge Musiker, die mit so enormen Mitteln, einem fast perfekten Instrumentarium so wenig zu sagen haben. Der Jazz befindet sich zweifellos in einer Phase der «Akademisierung». Dabei droht er Qualitäten zu verlieren, die nicht zu lernen, sondern nur zu erfahren sind: in nur lose geplanten Formationen, überraschenden, irritierenden, gelegentlich auch schockierenden neuen Begegnungen und Formationen, vor einem neugierigen, offenen, manchmal gleichgültigen, jedenfalls lockeren Publikum. Max Roach, einer der Begründer des modernen Jazzschlagzeugs und sicher einer seiner grössten Meister, beklagte einmal in einem langen Gespräch den Einbruch der Club-Szene nicht so sehr aus wirtschaftlichen, sondern aus grundsätzlich künstlerischen Gründen: die Clubs seien insgesamt so etwas gewesen wie «the academy of the streets» und als solche unersetzlich. Das Experimentierfeld, auf dem, mit Glück, entstehen konnte, was noch nicht gedacht, nicht erfunden war. Auf dem nur der fehl am Platz war, der keine Risiken einging.
Nun wird niemand, der bei Trost ist, glauben, Verhältnisse wie in Kansas City, New York oder Chicago der dreissiger bis sechziger Jahre wären in Zürich wiederherzustellen, sozusagen als ein Jazz-Erlebnispark. It’s all over now, auch in den USA, die Freizeitgewohnheiten haben sich geändert. Dennoch ist die Eröffnung dieses Clubs mehr als ein nostalgischer Anachronismus.

Ich verzichte darauf, die lange Geschichte des «Bazillus», die Sisyphus-Anstrengungen seiner Initiatoren, die Gezeiten der gewagten und begrabenen und wiederbelebten Hoffnungen nachzuzeichnen, oder die Entstehung der Idee aus dem Vakuum, welches das legendäre einstige «Africana» hinterlassen hatte. Ich beschränke mich auf eine einfache Feststellung: der erst mal bescheidene Anfang, die Idee, einen Freiraum zu schaffen weniger für Bands, sondern für Workshops (aus denen Bands vielleicht entstehen), einen Treffpunkt für aktive und passive Musiker, der Versuch, vielen jungen Könnern zu helfen, ohne Druck zu sich selbst, zu einer, nun ja denn: «Botschaft», zu einer Persönlichkeit zu werden, ihnen zu einer Geschichte zu verhelfen oder auch nur zur Fähigkeit, eine eigene Geschichte zu erzählen, ist eine unerlässliche komplementäre Anstrengung zu aller institutioneller Ausbildung. Nur so ist die abwegige Vorstellungen zu relativieren, das Alte sei alt nur und neu nur das Neue. Nicht das Ranschmeissertum der Alten an eine wie immer geartete Jugendlichkeit ist zu fördern und nicht die erfurchtsstarre Nachbeterei der Jungen von Stilen, deren Voraussetzungen sie niemals haben erfahren können: beides ist gleich peinlich. Was hier abermals versucht wird, betrifft, wie bescheiden es sich ausnimmt, wie wenig Garantien dabei abzugeben sind, nicht weniger als den Kern der Sache, ob wir die nun Jazz nennen oder nicht.

Ich denke, Herr Stadtpräsident, meine Damen und Herren Sponsoren, Sie werden in Zusammenhang mit dieser Initiative mehr als einmal den Einwand gehört haben: Zürich hat ja schon einen Jazzclub, es gibt ja das «Moods». Richtig, und das ist nicht genug zu preisen, und die inspirierte Programmgestaltung von dessen Verantwortlichen auch.
Angesichts der kann einer, der an den Veranstaltungskalender einer Metropole wie, sagen wir: Mailand gewöhnt ist, vor Neid nur erblassen. Einmal, verzeihen Sie mir, kommt mir dieser Einwand vor wie der Satz: «Was soll ich dem ein Buch schenken, er hat ja schon eins». Im Ernst: das «Moods» ist ein Podium für spannende Musik, ein Ort für Konzerte und renommierte Attraktionen. Das braucht es und es ist wunderbar. Der Bazillus dagegen hat nicht einmal ein Podium, und auch das ist gut und nötig: «workshops» eher als Konzerte. Das eine ermöglichen und das andere nicht verhindern: von einer Konkurrenz, meine ich, kann im Ernst keine Rede sein.

Michael Cuscuna, einer der grossen Produzenten des Jazz, für Atlantic, Blue Note, Columbia und endlich das Re-Issue- Unternehmen «Mosaic», fragte unlängst: «Was macht einen grossen Jazz Club aus? Grundsätzlich eine Anzahl anscheinend unzusammenhängender Faktoren, die ergeben, dass ein Ambiente für Musiker wie Zuhörer gleichermassen angenehm ist. Ein guter Service ist nett, aber nicht wesentlich, solang die Drinks nicht zu teuer und zu lang sind». Wir wollen’s hoffen. Das wichtigste allerdings: der den Club betreibt, muss mit den Musikern und dem Publikum die Leidenschaft teilen. Da sind wir im Fall von Beat Kennel schon mehr als zuversichtlich. Er ist Musiker.